A u t o r e n b e i t r ä g e


Rezension (Auftragsarbeit):


Günter Rohrmoser: "Dekadenz und Apokalypse / Thomas Mann als Diagnostiker des deutschen Bürgertums",
Verlag Gesellschaft für Kulturwissenschaft e. V., Bietigheim /Baden 2005, ISBN 3-930218-35-6,

von Klaus Peter Fischer


Anders als Journalisten, die heute die Bekömmlichkeit von Entenfleisch zu loben und anderntags vor den tödlichen Gefahren einer ominösen Geflügelpest zu warnen haben, wechseln Literaten der gehobenen Klasse nur selten ihr Arbeitsfeld. Bei Thomas Mann war das Generalthema Deutschland, das Durchgangsland des Kontinents, seine eigentliche Drehscheibe und auffällig häufig auch Geburts- und Pflanzstätte prägender kultureller, wirtschaftlicher und politischer Gedankengänge. Als er nach dem Krieg nach Europa zurückkehrt, schreibt er an Emil Preetorius: "Der Ring schließt sich. Es ist, nach fünfzigjährigen Wanderungen durch Raum und Zeit, eine Heimkehr ins Deutsch-Altstädtische, Deutsch-Musikalische…". Sein Faustus-Roman ist gerade veröffentlicht, der zu "einem guten Teil ein Nietzsche- Roman ist", zudem eine "sonderbare Art von übertragener Autobiographie" von "fast sträflicher Schonungslosigkeit".

Thomas Manns an denkwürdigen Wandlungen und Fehlern nicht eben armes Leben ist aber, wie Günter Rohrmoser, seit 1976 Ordinarius für Sozialphilosophie an der Universität Stuttgart- Hohenheim, in seinem neuen Werk "Dekadenz und Apokalypse / Thomas Mann als Diagnostiker des deutschen Bürgertums" lebensdurchgängig von seinen "Grundüberzeugungen", wie er sie früh in den "Betrachtungen eines Unpolitischen" bereits formulierte, von "seiner inneren Zugehörigkeit zu Deutschland und seinem deutschen Patriotismus" eigentlich nie abgerückt. Dies mag nur diejenigen verwundern, die sich gedanklich bloß noch innerhalb des fest umrissenen Bannkreises von Kosmopolitik, Weltbürgertum und Weltrepublik zu bewegen vermögen, die die unendlich vielfältigen alternativen und daher auch denkbaren Sozialmodelle aber von vornherein ebenso verwerfen wie die Lektüre ungekürzter Gesamtausgaben unserer großen Autoren.

Versteht man Rohrmoser richtig, dann will er, wofür es mehr als tausend gute Gründe gibt, uns Deutschen Mut machen, daß wir trotz noch immer fast täglich im In- und Ausland wiederholter grob bösartiger oder auch subtil verdeckter Attacken "kein Barbarenvolk", "kein minderwertiges Volk" sind. "Wir sind kein Volk und keine Nation zweiter Klasse und müssen uns deshalb nicht so verhalten, wie der Jüngling bei Dostojewski, der, als er entdeckte, daß die Russen nur eine zweitklassige Nation sind, diesen Gedanken so unerträglich fand, daß er sich erschossen hat", resümiert er mit deutlichen tagspolitischen Verweisen.

Rohrmoser, Autor zahlreicher Werke über kulturpolitische "Zeitzeichen", und damit ein ebenso unbequemer wie unzeitgemäßer Mahner in umbrechenden Zeiten, unternimmt in seiner neuesten Studie nunmehr den Versuch, das literarische Werk des Lübeckers auch als ein religiös und historisch zu lesendes Deutungsdokument zu würdigen, um somit vielleicht weiteren Aufschluß über die unvermindert fortdauernde deutsche Tragödie zu bekommen. Naturgemäß fällt sein Blick dabei auf jenen Teil des deutschen Bürgertums, der, sofern man darunter die bildungsbürgerliche Sektion versteht, sich nach den einigelnden Rückzugsgefechten der sechziger Jahre inzwischen auf vollkommen verlorenem Posten steht.

Nicht weil diese Sektion ohne Argumente und gleichsam unbewaffnet einer geistig hochgerüsteten Armada gegenübersteht, die zudem in den Niederungen des Partisanenkampfes wie der psychologischen Kriegsführung heimisch ist, sondern weil sie keine Fahne aufgezogen hat, die Klarheit über das Ziel vermittelt. Nebulöse kosmopolitische Visionen führen nur dazu, gesicherte Felder zu verlassen und aus den sumpfigen Niederungen heraus gegenüber der sich der Sieger ständig versichernden Gegenseite fortwährend Zugeständnisse einräumen zu müssen.

Mit von Scham gerötetem Kopf gewissermaßen, weil die eigene Ansicht als richtig erkannt, aber nicht verteidigt wird. Und genau hier knüpft schließlich auch Günter Rohmosers kluge Arbeit an, indem sie Manns umfangreiches Werk mit geschichtlicher Elle vermißt.

In seinen heute leider nur noch wenig gekannten und noch weniger angeführten "Gedanken im Kriege" von 1915 weiß Mann eine scharfe Grenze zwischen Zivilisation und Kultur zu ziehen. Er betrachtet sie als "Gegensätze, die eine der vielfältigen Erscheinungsformen des ewigen Weltgegensatzes und Widerspiels von Geist und Natur" bilden. Artikuliert er hier die geistige Differenz zwischen den romanischen und angelsächsischen Mächten auf der einen Seite und der deutschen Gruppierung auf der anderen Seite, so liefert er mit "Friedrich und die große Koalition" eine äußerst präzise historische und geopolitische Lektion über die europäische Mächtekonstellation nach, deren Kenntnis heute einige übermäßig euphorisch gestimmte Europaenthusiasten vor ungebremst himmelwärts fliegenden Flausen leicht bewahren könnte.

Dies nun nicht, um die immer noch nicht schlüssig formulierte Europa-Idee, die wohl nur als eine von Völkern und Vaterländern funktionieren könnte, zu diskreditieren, die ja insbesondere auch an der noch keineswegs hergestellten Gleichrangigkeit ihrer deutschen Mitgliedsländer kränkelt, sondern um die daraus resultierenden und krebsartig schwärenden Vorurteile, Eifersüchteleien und ihren weiterhin fort geltenden Rivalitäten von ihren geschichtlichen Ursprungslinien her zu verstehen.

Thomas Mann wußte um diese Konstellation noch, und Fritz Fischers wissenschaftlich extrem schräger "Griff zur Weltmacht", von seiner Intention her weithin durch seine eigenen Verstrickungen in die NS-Zeit verformt und gleichwohl noch immer unkritisch empfohlenes wie hoch gelobtes Generalmachwerk der Nachkriegsära, hätte wohl seinerzeit schärfsten Widerspruch des Lübeckers gefunden.

In der heutzutage aus den meisten Auflagen verschwundenen Vorrede seiner "Betrachtungen eines Unpolitischen", umreißt er nicht nur den eigenen Kulturgrund, sondern führt schärfste Argumente ins Feld, um Verursacher zu markieren. Er liefert Bilder, die ohne Namensbezug augenblicklich die unsägliche Keulen- Maschinerie wenn nicht gar einschlägig damit beauftrage amtliche Stellen auf den Plan rufen würden: "Die Geschichtsforschung wird lehren, welche Rolle das internationale Illuminatentum, die Freimaurer- Weltloge, unter Ausschluß der ahnungslosen Deutschen natürlich, bei der geistigen Vorbereitung und wirklichen Entfesselung des Weltkrieges, des Krieges der ´Zivilisation´ gegen Deutschland gespielt hat". Urteile, die Thomas Mann später, als er sich unter der veränderten Geschäftsgrundlage ins Lebenspraktische einzufügen hatte, abzuschwächen versuchte, die er aber auch nie widerrief.

Was ist schließlich sein aus den norddeutschen Niederungen in die Höhen einer Heilklinik aufsteigende Hans Castorp? Ein durch gemeinhin verborgen gehaltenes Herrschaftswissen eingeweihter Ingenieur, der am Ende sowohl den Freimaurer Settembrini, den vernünftlerischen "Drehorgelmann" mit seinen verblasenen Visionen von Weltrepublik genauso hinter sich läßt wie dessen Gegenspieler Naphta. Rohrmoser hält es immerhin für bedeutsam, daß er den "Windbeutel" Settembrini zwar lieber mag, als den "scharfen" Naphta, der freilich "fast immer recht" hat.

Aber Hans Castrorp muß beide verlassen, meiden, um seiner eignen Entwicklung, seines Fortgangs als Persönlichkeit willen. Es läßt sich vielleicht nicht belegen, aber vermutlich wohl auch eingedenk einer Mahnung von Nietzsches "Zarathustra": "Hütet euch, damit euch nicht eine Bildsäule erschlage", nämlich die götzenartigen Monumente seiner bald heillos zerstrittenen Lehrmeister. Das nützt dem "Sorgenkind" Castorp am Ende wenig, wie Rohrmoser zutreffend zu analysieren weiß.

Man hätte sich hier wohl noch einiger Seiten mehr über den schwarz gewandeten Seelenforscher Dr. Krokowski gewünscht, der als Jünger Freuds von Mann eingeführt und von Rohrmoser etwas zu kritiklos als Deuter einer "wissenschaftlichen Auffassung" von Krankheit verstanden wird. Über Freud, von dem er schreibt, daß man nie vergessen dürfe, daß er sein gesamtes Werk unter die große historische Maxime gestellt wissen wollte, daß "dort, wo `Es` war, ´Ich` werden soll", ist nach den Arbeiten von Eysenck, Kerr und Leibowitz schon vor Jahren endgültig der Stab gebrochen worden. Soeben nochmals sekundiert von Catherine Meyer, deren "Le Livre noir de la Psychoanalyse" nachweist, daß Freud Schweigegelder zahlte, unbequeme Ergebnisse unterschlug oder auch zugunsten seiner windigen Thesen umdeutete. Ein Coup mit einer Couch als Erwerbsquelle - dies hätte Manns Ironie gewiß angefacht und vielleicht zu einem Essay a´ la Felix Krull über "Wissenschaft als materielle (Über-)Lebensform" angestiftet.

Spiegelt sich im "Zauberberg" gleichsam die europäische Führungsschicht wie in einem Kaleidoskop, so geraten mit "Dr. Faustus" die deutsche Geistesgeschichte und ihre Repräsentanten mit ihren vielfältigen Verschränkungen und Facetten in den Blick. Allen voran der genialische Tonsetzer Adrian Leverkühn mit biographischen Zügen von Hugo Wolf und insbesondere Friedrich Nietzsche. Damit verschiebt sich geradezu zwangsweise die Sicht von der politischen Sphäre in die religiös- kulturelle.

Rohrmoser reiht die gängigen Thesen über das Wirken und Scheitern des deutschen Bürgertums, soziale Verelendung, Inflation, sieben Millionen Arbeitslose usw. aneinander - und verwirft sie allesamt zugunsten der These, wonach Kultur "sich in dem Augenblick, in dem sie sich von ihren kultischen Ursprüngen und Gründen emanzipiert und ihre religiöse Herkunft negiert," den "zerstörenden Potentialen hilf- und machtlos ausgeliefert ist".

Damit tritt zugleich auch Günter Rohrmoser eigentliches Motiv für dieses Werk hervor: Thomas Mann, den "Zyniker, Nihilisten und Ironiker", zu würdigen, der es vermochte, was eine riesige Legion von Theologen und Philosophen nicht zu schaffen wußte: ein christlich- theologisches Deutungsmuster einer geradezu beispiellosen Epoche zu bieten. Mehr noch, er schlußfolgert daraus, daß Thomas Mann nicht nur mit seinen "Betrachtungen" ein "´Konservativer´ war, sondern, viele werden sagen, Gott sei es geklagt, er ist es bis zu seinem Ende geblieben. Für ihn war dieser Konservativismus ebenso national wie religiös. Das gilt heute als das Reaktionärste, was man sich überhaupt vorstellen kann".

Wohlan, es gibt einen kurz gefaßten, äußerst informativen Kurzlehrgang, wie man "reaktionär" werden kann, es gilt auch einen vollständigen Thomas Mann neu zu entdecken. Günter Rohrmoser hat die Pforte dazu ein breites Stück aufgetan.


Der Rezensent K. P. Fischer ist Autor des Sachbuches "Kirche und Christen in der DDR", Verlag Gebr. Holzapfel, und des unlängst im Ludwigsfelder Verlagshaus erschienen Romans "Der Schein"



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