Selbstbestimmt / Ein Leben im Spannungsfeld von geteiltem Deutschland und russischer Politik
ARES Verlag, Graz
2006
3-902475-20-X
216
18,90 Euro / Sfr 34,90
Wolfgang Seifferts Leben beschreibt wie wenige andere Biographien das Hin- und Hergeworfensein eines in nationalen Kategorien denkenden Intellektuellen zwischen Ost und West. Ob in der DDR oder der BRD lehrend, gehörte er stets zu den engagiertesten Verfechtern der deutschen Wiedervereinigung, auch als diese nicht auf der politischen Agenda der jeweiligen deutschen Regierungsparteien stand.
Die sowjetische Zielvorstellung folgte unerlässlichen wirtschaftlichen Zwängen, weshalb Außenminister Gromyko 1987 anlässlich des Besuches von Bundespräsident v. Weizsäcker in Moskau sich nicht lange bei der Vorrede aufhielt, sondern ungesäumt zum Thema kam: „Wir können einen neuen Rapallo-Vertrag machen". V. Weizsäcker, wie Kohl gelehriger Enkel Adenauers, verwarf das Angebot sofort, das zudem noch davon begleitet war, endlich einen dicken Schlussstrich unter jene gehässige antideutsche Polemik zu ziehen, die die innere Atmosphäre vergiftete und historische Sachverhalte größtentels auf den Kopf stellte. Doch der Bundespräsident verneinte rigide auch noch den kleinsten Schritt in eine solche Richtung und informierte stattdessen die Verbündeten der Bundesrepublik.
Moskau blieb diese servile Attitüde natürlich nicht verborgen und prompt bekam er eine auf die Achillesferse der Republik abzielende Antwort des bereits unter Stalin geschulten Politikers Gromyko: Er überreichte dem Bundespräsidenten eine Liste von sechs „Kriegsverbrechern", die angeblich noch in der Bundesrepublik unbehelligt leben sollten. Ein Musterbeispiel dafür, welchen Wert tatsächliche Selbstbestimmung, Souveränität und Deutungshoheit über die eigene Geschichte haben. Was sich hier im Licht der großen Politik spiegelt, versucht Wolfgang Seiffert mit seiner politischer Autobiographie „Selbstbestimmt / Ein Leben im Spannungsfeld vom geteilten Deutschland und russischer Politik" aus der Sicht eines an jenen Vorgängen nicht unbeteiligt gewesenen Akteurs nachzuzeichnen.
Denn Wolfgang Seiffert, Jahrgang 1926, geboren in Breslau, ist keineswegs nur stiller Beobachter des politischen Geschehens aus sicheren Kulissen gewesen. Er gehört, wie wenige der sonst bekannten Personen des öffentlichen Lebens zu jenen seltenen Akteuren, die den Prozess der deutschen Vereinigung zu einem Zeitpunkt noch aktiv vorangetrieben haben, als es bereits zum guten Ton aller Parteien gehörte, die „Anerkennung der Realitäten, wie sie der Zweite Weltkrieg nun einmal geschaffen" habe, kritiklos zu akzeptieren.
Als der vormalige Berater Honeckers in völker- und wirtschaftsrechtlichen Angelegenheiten sich mit der SED überwarf, um in Westdeutschland seine wissenschaftliche Karriere an der Kieler Universität fortzusetzen, zeigte die Bemühungen diverser Bundesregierungen bereits reife Früchte: Honeckers so genannte „Geraer Forderung" nach Anerkennung einer eigenen DDR-Staatsbürgerschaft stand kurz vor der Erfüllung. Die in Salzgitter ansässige Zentrale Erfassungsstelle für politische Verbrechen in der DDR war in Auflösung begriffen, die Forderung nach Wiedervereinigung gar, sonst noch allenfalls zur bloßen Feiertagsrhetorik für schlichtere Wähler bemüht, wurde gleichsam schon als unsittliche Forderung gewertet, die aus längst überkommener Zeit noch querulierend als bloße „Lebenslüge" in als verworfen geltenden Zirkeln „Ewiggestriger" spukte.
Als Seiffert über exklusive Zirkel hinaus mit der ungelösten deutschen Frage an die Öffentlichkeit trat, löste dies erhebliche Irritationen aus. Otto Schily, der damals gerade bei den Grünen gastierte und sich derzeit in den Vorstand einer Firma katapultiert hat, die raffinierte polizeiliche Kennungspapiere herstellt, deren Einführung er zum Erhalt der inneren Sicherheit zuvor erst als Minister für unerlässlich erklärte, um sich ein kleines Zubrot für seine offenbar so schmalen Altersbezüge zu sichern, „bezweifelte damals, ob es die beste Situation sei, wenn alle Deutschen unter einem Dach versammelt würden". Der WDR-Publizist und Berater Willy Brandts, Peter Bender, befand, dass das „Gleichgewicht" eine „weitere Teilung Deutschlands" verlange. Die Liste der populären Gegner der Vereinigung ließe sich fast beliebig dehnen, sie illustriert nur die eigentlich dominante politische Hauptlinie.
Immerhin gab es auch Nachdenklichere, die die von Seiffert vertretene These von einer „überdauernden und überlebenden Schicksalsgemeinschaft" billigten. Voran der mächtige „Spiegel", der in den dann doch entscheidenden Personen Augstein und Fritjof Meyer starke Apologeten besaß: Augstein, in der Frühzeit der Bundesrepublik bereits als Daniel Doppler gegen Adenauer und dessen einseitige Westbindung polemisierend, war es, der sogar mit einer deutschen Neutralität sympathisierte, während die unrühmlicheren Sprösslinge des Magazins, Gaus und später Böhm, ganz offensichtlich anderen Spielmelodien folgten.
Seiffert zog gegen dieses Milieu in demonstrativer und bewusster Ignoranz mit seinem Buch „Das ganze Deutschland - Perspektiven einer Wiedervereinigung" (Piper Verlag) 1984 eine andere Flagge auf, die von einer Lösung der deutschen Frage in dem überschaubaren Zeitrahmen von zehn Jahren ausging. Das Buch wurde trotz der massiv gegenteilig umlaufenden politischen Bemühungen in der Bevölkerung augenblicklich ein Erfolg und stand mehrere Wochen an der Spitze aller verkauften Bücher. Zugleich formierte sich die Front der Befürworter und Gegner einer Vereinigungspolitik deutlicher: Der eingangs schon unrühmlich erwähnte Richard v. Weizsäcker, Diplomatensohn, dem das mehr als geschmeidige Taktieren wohl im Blut sitzt, empfahl Seiffert: „Bei einer zweiten Auflage sollten Sie die Karte auf dem Buchumschlag noch größer machen, damit man sieht, dass auch ein vereinigtes Deutschland immer noch kleiner ist als Frankreich". Der nicht minder geschmeidiger agierende damalige Außenminister Genscher, der wohl nicht ohne stichhaltigen Grund nach 1989 unvermittelt sein Amt freigeben musste, versprach Seiffert munter eine „Beratergruppe", die selbstverständlich nie zustande kam. Reines politisches Gesäusel, das allein Wählerstimmen fangen sollte.
Auch Günter Gaus, offiziell als Mann der Einheit mit Augenmaß gepriesen, blieb ebenfalls auf Abstand. Auf einer Tagung der Evangelischen Akademie in Loccum bekam er deswegen von Seiffert eine gepfefferte Breitseite: „Als Sie Chefredakteur vom ´Spiegel´ waren, haben Sie nicht gewusst, wo die die DDR liegt. Nachdem Sie dort sechs Jahre lang der Ständige Vertreter Bonns waren, wissen Sie nicht, wo Sie gewesen sind".
Der gebürtige Breslauer war nach Kriegsdienst und sowjetischer Gefangenschaft, dort mit den höheren ideologischen Weihen der „Antifaschule 2041" versehen, früh in das Räderwerk der innerdeutschen Fronten geraten. Nach der Vertreibung aus der schlesischen Hauptstadt im Rheinland ansässig geworden, engagierte er sich politisch in der Freien Deutschen Jugend (FDJ), die von der damals noch im Bundestag vertretenen KPD als ihre Jugendorganisation gegründet worden war.
Die FDJ faszinierte zu größeren Teilen ihre Mitglieder mit ihrem politischen Kampf gegen „Wiederbewaffnung" und „Remilitarisierung Westdeutschlands", der die kriegsmüde, pazifistisch ausgerichtete Generation ansprechen sollte und damit bereits deutlich die Zeichen des auf deutschem Boden entstanden Konflikts der Siegermächte trug. Moskau stellte deswegen die deutsche Einheit in den Mittelpunkt ihrer Deutschlandpolitik, die sich wie selbstverständlich an die Sehnsüchte des deutschen Volkes und in der Frühzeit sich insbesondere auch an die Vertriebenen richtete.
Damit geriet diese Organisation zusammen mit dem hauptamtlichen FDJ- Funktionär Seiffert geradezu zwangsweise in das gegenläufige Räderwerk des auf Markierung des Status quo ausgerichteten Kalten Krieges, was 1956 schließlich dazu führte, dass die KPD für verfassungsfeindlich erklärt und verboten wurde. Seiffert erhielt in einem Prozess vier Jahre Gefängnis, aus dem er schließlich mit oder ohne Genossenhilfe, er schreibt darüber nichts, ausbrechen und in die DDR flüchten konnte.
Die beträchtliche Höhe des damals verhängten Strafmasses steht sicherlich in enger Wechselbeziehung zu dem, was Seiffert über die Potenz des damals 30.000 Mitglieder umfassenden „Kampfverbandes" berichtet: „Er konnte innerhalb von drei Tagen an jedem beliebigen Ort der Bundesrepublik eine Massenkundgebung und Demonstration zustande bringen. Aber viele seiner Mitglieder waren auch gute Diskutanten zu den politischen Themen der damaligen Zeit".
Die Haftzeit geriet auch ihm, wie vielen anderen politischen Köpfen, gleichsam zur ersten Hochschule. In der Gefängnisbibliothek beschäftigt er sich auch mit den windigen Kampfpraktiken des erfolgreichsten Gegenreformators, Ignatius von Loyola: „Mir wurde dabei schnell klar, dass die Organisationsprinzipien und Strukturen der Kommunistischen Partei, wie wir sie auf der „Antifa- Schule" gelehrt bekommen hatten, keine neue Erfindung von Lenin und Stalin waren. Schon der Jesuitenorden hatte sie auf seine Weise und für seine Ziele praktiziert".
Im Ostteil Berlins begann nach Seifferts Flucht die zunächst schier unaufhaltsame Karriere des zum Märtyrer stilisierten FDJ-Funktionärs in der DDR. Dort lernte er sie alle kenne, die die Weichenstellung für die DDR vorgenommen hatten: Walter und Lotte Ulbricht, Margot Feist, Erich Honecker, Hanna Grotewohl und Hilde Benjamin, die von abgründigem Hass erfüllte Juristin.
Dem Recht, freilich dem etwas anderem, fühlte sich auch der spätere Völkerrechtler verpflichtet, der seine akademische Karriere mit einer Aspirantur an der Berliner Humboldt-Universität begann, um sie später mit Arbeits-, Wirtschafts- und eben Völkerrecht fortzusetzen.
Bedeutsam für den Leser sind insbesondere Seifferts Urteile über damals maßgebliche Personen der DDR: Ulbricht etwa. Der Mann mit der unangenehm sächselnden Fistelstimme, der durch die harte Schule der Komintern gegangen war, sei der eigentlich ebenbürtige Gegenspieler Adenauers gewesen, der im DDR-Staat insbesondere auch ein Instrument „zur Verwirklichung seiner ´nationalen Mission´ in Deutschland sah".
Ulbricht: „Wir müssen ökonomisch stark werden, dann werden wir die Auseinandersetzung um Deutschland gewinnen." Seiffert erwähnt lobend Ulbrichts sachliches Urteil etwa bei der Bildung eines Arbeitsgesetzbuches, das diesen sozialen Bereich überhaupt erstmals umfassend zu regeln versuchte. Und er vergisst nicht zu erwähnen, dass der Einigungsvertrag vom 31.August 1990 in Artikel VII, der ausgewählte Teile des Gesetzeswerkes in Kraft ließ, ein gesamtdeutsches Arbeitsgesetzbuch zu bilden verlangt, einen bis auf den heutigen Tag uneingelösten Auftrag darstellt.
Ulbrichts Mauerbau, so Seiffert, sollte letztlich in kruder Dialektik auch der angestrebten „nationalen Mission" dienen, auch wenn dies faktisch den Anfang vom Ende der DDR bedeutet hatte. Die Ulbrichtsche Variante lautete zunächst, für den Westteil Berlins die Luftwege für den zivilen Verkehr zu unterbinden, um dann der ohnehin isolierten Teilstadt vollends den Garaus zu machen. Doch am 3. August 1961 offerierte ihm Chrustschow lapidar: „Deine Variante ist gestorben, da machen die Amerikaner nicht mit".
Letztlich aber wollten die Sowjets wohl die Deutungshoheit über die Mitte Europas ausschließlich alleine besitzen, weshalb sie den nationalen Eifer Ulbrichts, der auch sonst, selbstverständlich vergeblich, die Moskauer auf Abstand zu halten versuchte, durch den ungleich schlichteren Honecker ersetzten. Prompt und gewiss nur Moskauer Wünschen folgend, strich ausgerechnet der gebürtige Saarländer 1974 den Artikel aus der DDR- Verfassung, der die nationale Einheit als politisches Hauptziel enthielt, und setzte ebenfalls auf lebensfernen Separatismus.
Seiffert schreibt: „Ich fühlte mich persönlich tief getroffen, war ich doch für das Ziel der deutschen Einheit ins Gefängnis gewandert, und Honecker selbst hatte öffentlich gelobt, für dieses Ziel so zu kämpfen wie ich." Damit nahm sich die DDR jede Perspektive, und wie der eigentliche Oberstasi-Chef Wolf nach dem Fall der Mauer schrieb, habe der Untergang der DDR von da an seinen Lauf genommen. Seiffert jedenfalls hielt dies neben der Preisgabe des noch von Ulbricht hartnäckig verfochtenen „Neuen ökonomischen Systems", das auch auf Distanz zu Moskau abzielte, für den „zweiten irreparablen Fehler der DDR- Führung".
Dies wirft freilich die Frage auf, die Seiffert leider nicht beantwortet, ob der DDR gerade bei wirtschaftlichem Erfolg von Moskau lange Leine gegeben worden wäre, um die Geschicke unserer Nation und des Kontinents gewissermaßen „piemontesisch" zu regenerieren.
Denn dazu mussten wohl erst ganz andere wirtschaftliche Zwänge aufkommen, die die sowjetische Führung unter Gorbatschow schließlich nötigte, jenseits dogmatischer ideologischer Leitlinien auch reformatorische Elemente für Wirtschaft und Verwaltung zuzulassen. Eingebettet blieb diese Ära in die amerikanische Nachrüstung als Echo auf die sowjetische Raketentechnik(SS 20). Was umgekehrt den Druck auf die eigene Wirtschaft erhöhte und zusammen mit den nicht ohne US-Zutun ausbrechenden polnischen Unruhen, das nur militärisch zusammen zu haltende Lager des Ostblocks insgesamt erschütterte. Da der sowjetische Einmarsch in Polen in letzter Sekunde entfiel, blieb nur noch die deutsche Karte. Zunächst wahrscheinlich nur als Drohgebärde gegen Polen genutzt, in dem die Rückgabe der deutschen Ostgebiete in Aussicht gestellt wurde, kam es erst Jahre später, nach einer gewissen polnischen Befriedung, zu weiteren ernsthaften Sondierungen. Nikolai Portugalow etwa, Mitglied des Politbüros in Moskau, brachte 1987 die These ins Spiel, dass die deutsche Nation fortbestehe, auch wenn sie sich gegenwärtig in mehreren Staaten darstelle.
In Bonn meinte man auf diese werbenden Signale hin mit Hohn und Spott reagieren zu können, Kohl bemühte den Vergleich Goebbels / Gorbatschow, um Moskau auf Abstand zu halten. Parallel dazu lief die Einladung Honeckers nach Bonn, der bei seinem Eintreffen dort protokollarisch mit den Ritualien eines offiziellen Staatsgastes aufgewertet wurde. Doch hellsichtigere Teile der westdeutschen Wirtschaft sahen mit sorgenvollem Blick auf den Globus die bereits erschlossenen Absatzmärkte, weshalb sie nunmehr ihr Augenmerk auf den riesigen, noch kaum erschlossen Markt Sowjetrusslands richteten, der nicht nur für zwei, drei Generationen deutsche Arbeitsplätze sichern konnte, sondern auch eine Lösung der deutschen Frage am Horizont anzeigte.
Wolfgang Seiffert lässt hier erstmals eine Variante zur deutschen Einheit an Hand eines selbst verfassten Gedächtnisprotokolls aufscheinen, die Einblick in eine der ersten Runden der deutsch-sowjetischen Vorverhandlungen gewährt, die bisher noch nie so in den Blick der Öffentlichkeit gerückt worden sind. Danach, so Seiffert in seinem Memorandum an Gorbatschow, könne „die deutsche Wiedervereinigung mit Zustimmung der Sowjetunion erreicht werden, wenn sich die Deutschen dazu bereit fänden, etwa 1-3 % des Bruttosozialprodukts als Kapitalinvestition für etwa 10 Jahre in die dann selbstverständlich reformierte sowjetische Wirtschaft vorzunehmen, darunter einen größeren Betrag ohne Rückzahlung, der aber insofern eine Zukunftsinvestition der deutschen Wirtschaft in den sowjetischen Markt wäre, als damit materiell Lieferungen, Kooperationen und natürlich Anschlussaufträge an die deutsche Wirtschaft zu erwarten wären."
Inzwischen, so berichtet Seiffert an Gorbatschow weiter, seien die ersten Vorgaben präzisiert worden, und „einflussreiche Kräfte in der Kernenergie, der Automobilindustrie, der chemischen Industrie, der Pharmazeutik, dem Maschinenbau und dem Bankwesen" würden „die Idee unterstützen". Während einige Persönlichkeiten der Sowjetunion diese Konzeption billigten, meldet die Ablehnungsfront Bedenken an, das Angebot erscheint „zu großzügig". Jenseits wirtschaftlicher Zwänge, die diesem Angebot erst die Lizenz verleihen, lehnt der durch Distanz zum Deutschtum hinreichend bekannte und gerade deswegen von einschlägigen bundesdeutschen Kreisen besonders hofierte Botschafter Falin dieses Projekt mit der Begründung ab, es lauf auf einen „Ausverkauf des Sozialismus" hinaus. Doch das in die Vermittlung eingeschaltete Professorenduo Daschitschew und Bogomolow bekunden im Namen Gorbatschows weiterhin großes Interesse.
Sie erhalten vom Sowjetpräsidenten kurzerhand den Auftrag, die Angelegenheit „unabhängig vom ZK" weiterzuverfolgen. Es versteht sich, dass diejenigen Kräfte, die mit großer Umsicht auf eine langfristige oder immerwährende Ausschaltung der Mitte des Kontinents aus waren, von diesen Absichten fernzuhalten waren. Es wird darauf verwiesen, dass „die Sache nur Aussicht auf Erfolg hat, wenn sie streng geheim bleibt. Wenn die Bundesregierung oder die Amerikaner oder Franzosen davon erfahren, bevor das Projekt so weit gediehen ist, dass es politisch nicht mehr eingerissen werden kann, wird das Projekt tot sein, aber auch diejenigen, die es hier initiiert und unterstützt haben. Denn Kohl etc. wollen einen solchen Weg des Interessenausgleichs mit der SU nicht." Damit werden nicht nur die Insassen aus der Wagenburg der Ablehnungsfront markiert, sondern es fällt auch ein Licht auf die noch immer ungeklärten Morde an Herrhausen und Rohwedder. Seiffert verweist auf eine Meldung der FAZ, die einen SED-Hintergrund mutmaßte. Aber denkbar sind selbstverständlich Reaktionen aus allen anderen Lagern der Ablehnungsfront.
Auch Honecker, der in einem vereinten Deutschland alle politischen Ämter verlieren hätte, setzt „auf den Sturz Gorbatschows", weshalb ihm, wie Seiffert Daschitschew zitiert, dieser sofort die Gunst entzieht und auch darüber informiert, dass die SU bei den nunmehr drohenden „inneren Auseinandersetzungen in der DDR nicht eingreifen werde". Damit sind auch die Stunden des SED-Regimes gezählt, das immer nur durch die Macht sowjetischer Bajonette seine Existenz zu behaupten vermochte. Das Schicksal nimmt seinen Lauf, seinen ungünstigsten, wie man heute weiß. Aber damit bleibt auch die Möglichkeit erhalten, den gegenwärtig beklemmenden Status als bloße Zwischenstufe zu betrachten, um die Deutsche Einheit als weiterhin ungelöste Aufgabe in nahezu jeder Hinsicht zu verstehen.
„Das ganze Deutschland" begründete einst Wolfgang Seifferts Legitimation, sich sowohl als aktiver Wegbereiter der Einheit, aber auch als Kenner der sowjetrussischen Außenpolitik betrachten zu können. Mit „Selbstbestimmt" stellt er nunmehr nicht nur seinen eigenen, auch biographisch aufschlussreichen Lebensgang im Spannungsfeld deutscher und russischer Interessen dar, sondern legt bislang verdeckt gehaltene Pfade frei, die erkennen lassen, dass selbst aus den verworrensten politischen Labyrinthen Auswege zu finden sind, wenn nur einsichtige Geister die Sinnmitte und Erfordernisse eines Volkes verstehen und als Auftrag wahrnehmen.
Seiffert hat einen wuchtigen Baustein über das Werden der deutschen Einheit geliefert, der sich nur schwer in den von der offiziellen Politik selbst errichteten Triumphbogen einfügt, der aber gerade deswegen wie ein erratischer Block die Zeiten überdauern dürfte. Zudem zeigt das Buch in anschaulicher Manier, wie Biographie und politisches Ziel sich überaus sinnstiftend einander zu ergänzen vermögen.
Der Rezensent K. P. Fischer ist Autor des Sachbuches „Kirche und Christen in der DDR" und des unlängst erschienen Romans „Der Schein", Ludwigsfelder Verlagshaus, der eine Jugend im geteilten Deutschland zum Thema hat.