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Schwarzbuch

Man muss die Täter nennen dürfen


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Das Berliner Kammergericht entscheidet nächste Woche, ob die DDR-Geschichte anonymisiert werden muss

Was darf ein Historiker oder Journalist, wenn er über die SED-Diktatur schreibt? Darf er Menschen, die dieses System getragen haben, nur dann noch benennen, sofern sie Schuld im juristischen Sinne auf sich geladen haben? Muss man moralische Verantwortung hingegen ignorieren? Letztlich um diese Fragen geht es im Rechtsstreit um das Buch "Deutsche Gerechtigkeit" des Autors Roman Grafe. Das Berliner Landgericht verbot vor einem Jahr eine Passage daraus. Darin beschreibt der Autor die Prozesse gegen DDR-Grenzschützer und deren Befehlsgeber. Grafe nannte darin einen Politoffizier eines Grenzregiments und wies ihm eine moralisch-politische Mitverantwortung für einen Todesfall an der Berliner Mauer zu. Man muss das so allgemein schreiben, denn der Süddeutschen Zeitung wurde von demselben Gericht eine identifizierende Berichterstattung über die Tätigkeit als Politoffizier verboten. Am übernächsten Freitag entscheidet das Kammergericht über die Berufung.

Die literarische, wissenschaftliche und journalistische Auseinandersetzung mit der SED-Diktatur gerät durch Gerichtsurteile wie das des Berliner Landgerichts in die Gefahr, dass Menschen nicht mehr genannt werden dürfen, durch die repressive Strukturen doch erst wirksam werden. Strukturen, die "Täter" und "Opfer" hervorbringen, verlieren auf diese Weise ihre Gesichter und Namen. In der Konsequenz führt das Verlangen der Anonymisierung von Verantwortung zu einem Erinnerungsverbot. Konkrete Geschichte löst sich in ein ununterscheidbares allgemeines Schicksal auf. Damit verliert das historische Urteil seine Funktion als Maßstab für die politische Kultur der Demokratie.

Vor 1989 war die Unüberwindbarkeit der innerdeutschen Grenze eine Frage der Kampfmoral der DDR-Grenztruppen. Nach dem Mauerbau 1961 hatte das SED-Politbüro den "Kampfauftrag" für die Grenztruppen beschlossen: "Grenzdurchbrüche" - um das Unwort "Flucht" zu vermeiden - seien mit Waffengewalt zu verhindern. 1963 ordnete der Berliner Stadtkommandant der Nationalen Volksarmee (NVA) darüber hinaus an: "Das Treffenwollen ist grundlegend zu verbessern und eng mit der politisch-ideologischen Arbeit zu verbinden." Es ging also um Fragen der Einstellung, des Bewusstseins - nicht aber der Schießfertigkeit. In einem früheren Buch zitierte Grafe einmal den "ideologischen Schießbefehl" des für Agitation und Propaganda zuständigen Politbüro-Mitglieds Albert Norden aus dem Jahr 1963: "Ihr schießt nicht auf Brüder und Schwestern, wenn ihr mit der Waffe den Grenzverletzer zum Halten bringt. Wie kann der euer Bruder sein, der die Republik verrät." "Grenzverletzer" waren also keine Landsleute oder gar Verwandte mehr, sondern als "Verräter" zum Abschuss freigegeben. "Verrätern gegenüber menschliche Gnade zu üben, heißt: unmenschlich am ganzen Volk handeln." Für die Bewusstseinsschulung ihrer Soldaten besaß die NVA nach sowjetischem Vorbild Politoffiziere - "Politnik", die als "Gehilfen" und Stellvertreter der Kommandeure fungierten, um die Einheiten zu sozialistischen "Kampfkollektiven" zu schmieden. Es handelte sich bei ihnen um SED-Funktionäre in Uniform. Ihre Aufgabe war es, die Kontrolle der Partei über ihre Streitkräfte zu sichern.

16 Jahre nach dem Ende der Grenztruppen hat sich das Landgericht Berlin aber nur am "Handbuch für politische Arbeit" der NVA und der Grenztruppen orientiert, um zu ergründen, worin der Auftrag eines Politoffiziers bestand. An der Grenze musste er vor allem die Soldaten im Befehlston verpflichten, "Grenzdurchbrüche" mit der Waffe zu verhindern. Dies wurde stereotyp mit dem Schutz des Sozialismus vor dem imperialistischen Klassenfeind aus der BRD gerechtfertigt. Der Vertreter des Klägers lieferte dazu die Interpretation, dass die Politoffiziere lediglich für "Staatsbürgerkunde" zuständig gewesen seien. Sein Mandant habe "keine indoktrinierenden oder gar die Soldaten vergatternden Aufgaben" gehabt.

Im Gegensatz zu diesem Fall gibt es auch eine selbstkritische Form des Umgangs mit eigener Verstrickung in die SED-Diktatur. Im Dezember 2006 erklärte der brandenburgische PDS-Vorsitzende Thomas Nord, der einige Jahre inoffizieller Mitarbeiter der Staatssicherheit war: "Aus heutiger Sicht war ich ein Täter." Er lebe in dem Bewusstsein, dass seine Berichte "politisch denunziatorisch" waren, dass er Teil eines repressiven Systems war. "Dafür schäme ich mich." Eine solche selbstkritische Haltung ist bei dem ehemaligen Politoffizier nicht zu erkennen. Ganz im Gegenteil, sein Anwalt schreibt: "Seine Biografie ist mehrfach von seinen Dienstherren untersucht worden, daraufhin, ob darin Gründe für eine Nichtübernahme in den Bundesdienst zu finden seien. Alle diese Untersuchungen verliefen negativ. Seit dem Jahr 1989 sind bekanntlich 17 Jahre vergangen, in denen er sich bei der Bundespolizei bewährt hat." Interessant wäre es zu wissen, ob die Personalakte der Grenztruppen vollständig oder nur in der "Modrow-Fassung" vorlag. Hans Modrow erlaubte im Frühjahr 1989, dass vor der deutschen Einheit jeder seine Personalakte selbst bereinigen dürfe.

Die Frage, wann das Persönlichkeitsrecht zurücktreten muss hinter dem Interesse an einer historischen Aufarbeitung, beschäftigte im Herbst 2006 auch den Bundestag. Denn das Stasi-Unterlagen-Gesetz von 1991 bestimmte, dass nach Ablauf von 15 Jahren Stasi-Akten nicht länger vorgehalten und verwertet werden dürfen. Presserechtler schlugen daraufhin Alarm: Wenn dies geltendes Recht bleibe, hätten die Gerichte ein Instrument in der Hand, um "Täter" vor einer missliebigen Öffentlichkeit zu schützen. Der Bundestag strich daraufhin bei der Novellierung des Unterlagen-Gesetzes die alte Bestimmung; dabei spielte das Erschrecken über das Urteil gegen Grafe eine Rolle. Die historische Aufarbeitung der SED-Diktatur soll nicht behindert werden.

Die Staatssicherheit war nach eigenem Verständnis "Schild und Schwert der Partei" - nichts anderes waren aber auch die Grenztruppen. Deshalb sollte die Öffentlichkeit in ihrem Falle (wie übrigens auch bei Parteisekretären) dieselben Rechte haben wie in Bezug auf die Stasi. Es geht um die historische Wahrheit über die zweite Diktatur im Deutschland des 20. Jahrhunderts. Die politische Kultur der Demokratie bedarf dieser Erinnerung ebenso wie jener an die Nazi-Herrschaft. Individuelle Schicksale in diesen Diktaturen können Maßstäbe liefern für heutiges Tun. Das gilt für Opfer, Widerständler und Täter gleichermaßen.

Süddeutsche Zeitung, München, 7. März 2007

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