Aufarbeitung des SBZ/DDR-Unrechts - Eine Zwischenbilanz des Aufbaus Ost
- Die Aufarbeitung des SBZ/DDR-Unrechts durch die Enquete-Kommissionen
des Bundestages 1992-1998
Überlegungen zu einer neuen Kommission:
"Das vereinigte Deutschland - Eine Zwischenbilanz des Aufbaus Ost"
von Professor Dr. Manfred Wilke, Forschungsverbund SED-Staat
Freie Universität Berlin , 14.11.2002
Referat auf der Tagung "Rechtsstaat in Bedrängnis", Potsdam 14.11.2002
- Nach der friedlichen Herbst-Revolution 1989 in der DDR begann die Auseinandersetzung mit Geschichte und Folgen dieser zweiten Diktatur in Deutschland im 20. Jahrhundert mit der Öffnung der Akten ihres Staatssicherheitsdienstes. Noch immer sind die Bilder der Montagsdemonstrationen in unserem Gedächtnis, die in diesem Herbst immer wieder ein Ziel hatten, die Kreisdienststellen des Ministeriums für Staatssicherheit. Die Ausschaltung vom ,,Schild und Schwert" der SED war die Voraussetzung für das Gelingen der ersten erfolgreichen demokratischen Revolution in der deutschen Geschichte. Die Öffnung der Akten für die betroffenen Opfer, zum Zwecke der juristischen Auseinandersetzung mit den Kadern der Diktatur aber vor allem für die Rehabilitierung der Opfer, zur Überprüfung des öffentlichen Dienstes in den neuen Ländern auf verdeckte Stasiseilschaften, waren im Zusammenhang mit dem Einigungsvertrag 1990 der erste gravierende Konflikt zwischen der Bürgerrechtsbewegung in der DDR und der Bundesregierung. Dieser Konflikt wurde dadurch gelöst, daß kurz vor dem Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes der Einigungsvertrag geändert werden mußte. Die Volkskammer erzwang die Öffnung der MfS-Akten und die Schaffung der Behörde für die Stasi-Unterlagen. Mit diesem Schritt begann der Deutsche Bundestag seine geschichtspolitische Auseinandersetzung mit dem Erbe der SED-Diktatur und darüber hinaus mit der Frage: Was bleibt von der DDR in der deutschen Geschichte?
Zwei Jahre nach der staatlichen Vereinigung und der Rückgewinnung der Souveränität für den zweiten deutschen Nationalstaat wurde gerade im Zusammenhang mit der Öffnung der Stasi-Akten und dem Bekanntwerden des Ausmaßes der Bespitzelung eines ganzen Volkes durch seine Regierung, wurden die Fragen aus der Debatte um die Erbschaft der Diktatur ein zentrales Problem der politischen Kultur der Deutschen. Im Unterschied zu der Situation nach 1945 als die alliierten Siegermächte im befreiten und besetzten Deutschland die Verurteilung der Nazi- und Kriegsverbrecher als eigenes Kriegsziel durchsetzten, waren die Deutschen nun gefordert, sich selbst die Frage zu stellen: Wie gehen wir um mit dem diktatorischen Erbe von über 40 Jahren kommunistischer Herrschaft, wie mit den Gräben der Teilung?
Erstmals entschloß sich der Deutsche Bundestag 1992 eine Enquete-Kommision zu berufen, die sich mit der Vergangenheit auseinandersetzen sollte und nicht wie üblich mit einem drängenden Zukunftsproblem, wie z.B. die demographische Entwicklung oder die neue Medientechnologie. Der Bundestag setzte diese Kommission zur "Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland" ein. In seiner letzten Rede im Bundestag begründete Altkanzler Willy Brandt ihre Notwendigkeit. Nur wenn die Geschichte offengelegt wird, kein Gras darüber wächst, Schuld und Verantwortung geklärt sind, können die Folgen der SED-Diktatur überwunden werden. Zugleich waren sich die demokratischen Parteien darin einig, daß die Geschichte der DDR und ihrer totalitären Staatspartei nicht auf die des MfS reduziert werden darf und der Blick nicht auf die DDR begrenzt bleibt. Ein Themenfeld der Kommission befaßte sich folgerichtig mit der innerdeutschen Politik der Bundesregierungen seit 1949 und dem öffentlichen Diskurs über die deutsche Frage im geteilten Land. Die Bestandsaufnahme zur Geschichte der DDR, zu der Struktur der Diktatur, zur Opposition und Widerstand und über das Schicksal der Kirchen im atheistischen Staat trugen dazu bei, eine der Grundfragen für die politische Kultur in dieser Frühphase des Vereinigungsprozesses öffentlich zu klären: Von den beiden im Zuge des Kalten Krieges entstandenen deutschen Staaten und ihrer politischen Ordnung besaß allein die Bundesrepublik als demokratischer Rechtsstaat eine Legitimation, die auf der Zustimmung ihrer Bürger beruhte. Die DDR dagegen basierte auf dem diktatorischen Willen der sowjetischen und deutschen Kommunisten und war ein Staat ohne Mandat es Volkes. Politisch kannte aus der DDR nur eines in die demokratische Kultur des vereinigten Landes positiv übernommen werden, und das war der Widerstand gegen die SED-Diktatur und das Aufstehen für Freiheit und Demokratie im Herbst des Jahres 1989. Die Verurteilung der Diktatur beinhaltete aber nicht, daß über die Menschen, die in der DDR leben mußten und wollten, weil es ihre Heimat war, der Stab gebrochen wurde. Es ging der Kommission um die Grundlage für einen gemeinsamen Weg der Deutschen und um die Maßstäbe der politischen Kultur für den Prozeß der inneren Vereinigung, der nach Lage der Dinge nicht kurzfristig abgeschlossen werden konnte.
Der 1994 neu gewählte Bundestag hielt es deshalb für geboten, erneut eine Enquete-Kommission einzusetzen. Sie nahm 1995 ihre Arbeit auf, die bereits der "Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit" gewidmet war. Die Aufgabenschwerpunkte der neuen Kommission basierten ausdrücklich auf den Ergebnissen ihrer Vorgängerin und konzentrierten sich auf Themenfelder, die in der ersten Kommission nur am Rande behandelt wurden, wie z.B. der Bereich Bildung und Kultur, die Wirtschafts-, Sozial- und Umweltpolitik und schließlich mit Blick auf die Teilungsgeschichte insgesamt bedeutsam "Das geteilte Deutschland im geteilten Europa".
Von besonderem Gewicht in der Arbeit der Kommission war eine Zwischenbilanz über die Rehabilitierung der Opfer und wie die Erinnerung und das Gedenken an die Verbrechen und die Opfer beider deutscher Diktaturen langfristig als Aufgabe des Bundes gesichert werden kann. Im Ergebnis erarbeitete die Kommission eine Gedenkstättenkonzeption für den Bundestag, der die Orte von nationalem Interesse definierte und brachte die Gründung einer Stiftung zur "Aufarbeitung der SED-Diktatur", auf den Weg.
Im Rahmen ihrer Untersuchungen befaßte sich die Kommission durchaus mit politisch brisanten Problemen des Transformationsprozesses. So ging sie der Frage nach, welche Entscheidungen der Regierung Modrow zwischen November 1989 und dem April 1990 führten zu Fehlentwicklungen und behinderten den Aufbau Ost von Bund und den Ländern nach 1990. Abschließend konnte diese Frage ebenso wenig geklärt werden, wie die nach den Finanztransaktionen der SED-PDS, die sie noch in eigener Verantwortung im Winter 1989/90 vornahm. Auch die Nachfrage nach dem Verbleib von SED-Nomenklaturkadern in der Verwaltung der neuen Länder erwies sich als ein schwieriges Unterfangen. Die Behandlung der Neuordnung des Pressewesens vermittelte der Kommission allerdings einen Einblick, wie die Privatisierung der Printmedien und die Integration der schon in der DDR beschäftigten Journalisten erfolgte.
In beiden Kommissionen gab es ausgesparte Untersuchungsfelder, zu ihnen zählen zum einen Rolle und Bedeutung der Nationalen Volksarmee in der DDR und vor allem die Bedeutung des ländlichen Raumes, in dem es der SED durch die Kollektivierung der Landwirtschaft gelang, die die Bauern als eigenständige Berufsgruppe zu eliminieren. Bezieht man die Konfiskation der Güter nach 1945 mit in diese Betrachtung ein, so bleibt als Befund, im vereinigten Deutschland besteht die Ordnung des ländlichen Raumes, wie sie von der SED vorgenommen wurde, auch nach 1990 trotz des Wandels der Eigentumsformen fort. Eine Expertise von Eckart Klein zu den Problemen der verfassungsrechtlichen "Aufarbeitung der SED-Diktatur und ihrer Folgen" im Zusammenhang mit der juristischen Aufarbeitung der SED-Diktatur befaßt sich ausführlich mit der juristischen Problematik des Ausschlusses der Rückgängigmachung von Enteignungen auf besatzungsrechtlicher Grundlage in der SBZ. In der Zusammenfassung hebt Eckart Klein den entscheidenden verfassungsrechtlichen Topos der Aufarbeitungsjudikatur hervor, nämlich die "historische Einmaligkeit der zu bewältigenden Aufgabe", die allerdings in der Regel dazu eingesetzt wird, "um die Nutzung der Regelungspielräume zu begründen, die mit gerade im Rechtsstaat (Grundsatz der Verhältnismäßigkeit!) notwendigen Abwägungsprozesse unausweichlich verbunden sind. Darüber hinausgehend werden mit diesem Argument Abweichungen oder Ausnahmen von ,Normalrecht´ begründet; allerdings zeigt hier nähere Betrachtung, daß mögliche Abweichungen in der Norm regelmäßig selbst angelegt sind, der eben gerade kein Absolutheitscharakter zukommt." Dieses Ergebnis wurde durchgehend von den Opfern der Diktatur herangezogen, wenn sie mit Verweis auf die Regelungen für Funktionsträger des SED-Staates auf ihre Situation hinwiesen und bitter anmerkten, daß die deutsche Justiz nach dem Ende der Diktaturen regelmäßig nach dem Grundsatz verfährt: Was einmal Recht war muß auch Recht bleiben und Gehorsam gegenüber diktatorischer Obrigkeit zählt mehr als demokratische Zivilcourage!
Ausführlicher als mit dem ländlichen Raum befaßte sich die zweite Kommission allerdings mit den Auswirkungen der Wirtschaftspolitik der SED gegenüber Handwerk und Mittelstand, die ebenso wie die Bauern aus dem Wirtschaftsleben der Zentralverwaltungswirtschaft beseitigt wurden. Der Schlußbericht der Kommission hebt ausdrücklich hervor, einer der zentralen Aufgaben des "Aufbau Ost" ist der Wiederaufbau eines neuen Mittelstandes in den neuen Bundesländern. Der Wert dieser beiden Enquete-Kommissionen für den öffentlichen Diskurs bestand darin, daß ausgestattet mit der Autorität des Bundestages Probleme und Fragen zur Geschichte der DDR und der ersten Jahre des Vereinigungsprozesses öffentlich kontrovers verhandelt wurden. Dies geschieht im Hinblick auf den Verlauf und die Ergebnisse des Förderprogramms "Aufbau Ost´ heute nur eingeschränkt und in der Regel nur unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten, es geht nur um die Effizienz der Förderprogramme. Eine solche Verkürzung der Debatte, die unvermeidlich parteipolitisch instrumentalisiert wird, löst die Probleme aber aus ihrem Zusammenhang und reduziert den Vereinigungsprozeß allein auf die staatliche Förderung und die Verwendung der Gelder. Um den öffentlichen Diskurs über den "Aufbau Ost" sachgerecht zu führen, wäre seine Einbettung in zwei andere Debatten vonnöten, die eine über die bevorstehende Osterweiterung der EU und die andere über die Zwischenbilanz des Vereinigungsprozesses insgesamt.
- Es erhebt sich an dieser Stelle die Frage, ob für eine solche Zwischenbilanz des Vereinigungsprozesses eine neue Enquete-Kommission des Bundestages nicht das geeignete Instrument wäre. Sie könnte nach den Erfahrungen der vorangegangenen beiden Kommissionen durchaus das geeignete Forum sein, um eine Debatte zwischen Politik, Wissenschaft, öffentlicher Meinung und der Gesellschaft zu bieten. Im Hinblick auf die Fortsetzung des Aufbaus Ost ist zudem an einen Punkt zu erinnern, der in den Handlungsempfehlungen des Schlußberichts der zweiten Kommission mit Blick auf die Rehabilitierung der Opfer ausdrücklich hervorgehoben wird:
"Die Enquete-Kommission empfiehlt Bund und Ländern, die Rehabilitierung der Opfer der SED-Diktatur in moralischer, ideeller und materieller Hinsicht auch in der nächsten Wahlperiode immer wieder kritischer Prüfungen zu unterwerfen und weiterhin nach Möglichkeiten zur Verbesserung der Rehabilitierungsmöglichkeiten der verschiedenen Opfergruppen zu suchen." Zu diesen Opfergruppen gehören auch die, die durch politisch-ideologisch motivierte Willkürakte der kommunistischen Diktatur um ihr Eigentum gebracht wurden. Den politischen Willen des Bundestages vorausgesetzt, könnte seine solche Enquete-Kommission Zwischenbilanz des Vereinigungsprozesses sich mit folgenden Themenfeldern in ihrem Arbeitsauftrag befassen:
- Aufbau Ost: Arbeitsplätze und Industriestruktur zwölf Jahre nach der Transformation der Zentralverwaltungswirtschaft, demographische Entwicklung, innerdeutsche Wanderungsbewegungen.
- Mittelstand - Eigentum - Zivilgesellschaft.
- Der ländliche Raum, die fortwirkenden Folgen der SED-Landwirtschaftspolitik unter ökonomischen, ökologischen und kulturellen Aspekten.
- Bilanz der Entwicklung demokratischer Kommunalverfassungen in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Sachsen.
- Die nationale Identität des vereinigten Landes: Anspruch, Realität und Widersprüche.
- Bildung und Kultur unter besonderer Berücksichtigung der Rekonstruktion einer demokratischen Schule, die Widerherstellung der Wissenschaftsfreiheit an den Universitäten, die Rettung bedrohter Kulturdenkmäler.
- Europäische Integration und die Osterweiterung als integrale Bestandteile des Programms Aufbau Ost.
All diese Schwerpunkte sind Vorschläge für ein künftiges Arbeitsprogramm einer solchen Enquete-Kommission, die aber nur dann einen Sinn hat, wenn sie dazu beiträgt, den Geist der Veränderung zu befördern, der gerade dann notwendig ist, wenn sich das Land in einer strukturellen Krise befindet, wie sie in Deutschland vorzufinden ist.
- Die Nomenklatura
Zu der Anzahl von Nomenklaturkadern in der DDR liegen inzwischen seriöse Schätzungen vor, die auf aufgefundene Kadernomenklaturordnungen unter Berücksichtigung von doppel- und Mehrfachfunktionen sowie den Zahlen über Kader-Weiterbildungsmaßnahmen beruhen. Demnach hat es Ende der achtziger Jahre ca, 339.000 Nomenklaturkader gegeben. Das entspricht dem Verhältnis von einem Nomenklaturkader zu 50 Einwohnern der DDR. Diese erhebliche Dimension läßt den alles beherrschenden Einfluß der SED-Diktatur auf die Gesellschaft der DDR deutlich werden und legt neben einer Neubewertung der Machtinstrumente der SED-Diktatur zukünftige breit angelegte Forschungen zum Verbleib der Nomenklaturkader nahe.
Zitiert aus: Schlußbericht der Enquete-Kommission "Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit" des Deutschen Bundestages, Drucksache 13/11000, 1998, S. 39.
Prof. Dr. Manfred Wilke: Professor an der Freien Universität Berlin
Berlin, 14.11.2002