Berlin - Nur selten ist eine Mitarbeiterversammlung so spannend: Tausend Angestellte der Stasi-Unterlagenbehörde (BStU), saßen gestern Vormittag im großen Saal des Kinos "Cubix" am Alexanderplatz. Direktor Hans Altendorf hatte sie eingeladen. "Die Debatte um die Beschäftigung ehemaliger Mitglieder des MfS bei der BStU hat viele von Ihnen bewegt."
Das ist reichlich untertrieben. Die Stasi-Aufklärer sind in hellem Aufruhr, seit Gutachter der Behördenleitung unter Marianne Birthler vorwerfen, eine Vielzahl ehemaliger Spitzel und hauptamtlicher Mitarbeiter der DDR-Staatssicherheit zu beschäftigen - und die Öffentlichkeit darüber getäuscht zu haben.
"Das Verschweigen der ehemaligen MfS- Personenschützer, der früheren Zeitsoldaten des MfS-Wachregiments und der IM (Inoffizielle Mitarbeiter - Anm. der Red.) kann als bewusste Irreführung von Parlament und Öffentlichkeit betrachtet werden", urteilen der frühere Verfassungsrichter Hans H. Klein und der Historiker Klaus Schroeder in ihrem Gutachten, das der Morgenpost vorliegt.
Das Gutachten hat Kulturstaatsminister Bernd Neumann (CDU) in Auftrag gegeben. Zuvor hatten Opfer der DDR-Diktatur eine Untersuchung gefordert.
Die Stasi-Unterlagenbehörde - ein Hort der Spitzel und Zuträger? Stasi-Experte Hubertus Knabe fordert die Veröffentlichung des Gutachtens. "Der Umgang mit den Stasi-Akten ist ein eminent öffentliche Angelegenheit", sagt er. Die Gesellschaft habe "ein Anrecht, über die Stasi-Verstrickungen in der Birthler-Behörde unterrichtet zu werden".
Dass in der Aufarbeitungsinstitution Angestellte mit Stasi-Vergangenheit am Werk sind, hat freilich nicht Birthler zu verantworten, sondern ihr Vorgänger Joachim Gauck. Der hatte 1991 geschrieben, die ehemaligen MfS-Mitarbeiter in seinem Apparat hätten "nicht die Möglichkeit, eigenständig mit den Akten zu arbeiten".
Laut Gutachten trifft das nicht zu. Vielmehr seien zwei ehemals hohe Offiziere des Geheimdienstes (ein Oberst und ein Oberstleutnant) gerade in den besonders brisanten IM-Verdachtsfällen Manfred Stolpe, Lothar de Maizière und Gregor Gysi mit Sonderrecherchen beauftragt gewesen. Dank Unterstützung der Behördenleitung hätten sie "unbeaufsichtigt in unerschlossenen Archivbeständen" arbeiten können.
Aber auch andere ehemalige MfS-Mitarbeiter in BStU-Diensten hätten Möglichkeiten zu Missbrauch gehabt: "Sie konnten Akten vernichten, verstellen oder herausschmuggeln, denn sie hatten als Wachschützer, als Archivare, als Magazinmitarbeiter oder als Rechercheure zum Teil ungehinderten und unbeaufsichtigten Zugang." Ob und in welchem Umfang das geschehen ist, lässt sich laut Gutachten nicht sagen.
Noch im ersten Tätigkeitsbericht ist laut Klein und Schroeder suggeriert worden, im eigenen Sicherheitsdienst der Behörde befänden sich keine ehemaligen Stasi-Mitarbeiter. Das war falsch. Zwar wurden die betreffenden Mitarbeiter auf Stasi-Kontakte hin überprüft, doch Folgen hatte ein Nachweis der MfS-Zugehörigkeit nicht. Zudem habe sich die Prüfung auf Formalien beschränkt, bemängeln die Gutachter. Zeitweise hätten bis zu 15 Prozent der Mitarbeiter eine Stasi-Vergangenheit gehabt.
Nachdem Ende November erstmals das Ausmaß der Verstrickungen publik geworden war, hatte Behördenchefin Birthler zuerst mitgeteilt, das sei allgemein bekannt. Kurz darauf sagte sie, von dieser Zahl überrascht worden zu sein. Dass die Regierung das Gutachten in Auftrag gab, hatte sie prinzipiell unterstützt.
Gegenwärtig arbeiten noch 56 Ex-Stasi-Leute in der Behörde, davon 34 im Haussicherheitsdienst. Die Leitungsebene des Wachschutzes bestehe sogar "ausschließlich aus ehemaligen MfS-Angehörigen". Bei den Beschäftigten handelt es sich nach den Erhebungen der Gutachter überwiegend um ehemalige MfS-Offiziere: um fünf Majore, zwölf Hauptleute, 32 Personen im Leutnantsrang und sieben Unteroffiziere; höhere Ex-Stasi-Offiziere in der Behörde sind 17 Jahre nach der Einheit pensioniert oder verstorben.
Allerdings hätten sie, räumen die Gutachter ein, "aktuell wohl kaum noch Missbrauchsmöglichkeiten". Birthler kritisierte die öffentlich noch nicht zugängliche Expertise scharf. Sie bliebe "hinter den Erwartungen zurück". Neumanns Gutachtern warf sie "falsche und unbelegte Darstellungen" vor.
Über ihren Untersuchungsauftrag hinaus hatten die beiden Gutachter auch die Zahl der "Systemträger" geprüft, also ehemalige SED- oder DDR-Staatsfunktionäre unter den Angestellten. Ungefähr jeder fünfte der knapp 2000 Mitarbeiter zähle dazu, schreiben Klein und Schroeder - freilich ohne Angabe der Quelle.
In ihrer Stellungnahme bestritt Birthler gestern diese Zahl. Die "im Gutachten kolportierte Zahl 400" hielte "einer sachlichen Prüfung in keiner Weise stand". Auf der Mitarbeiterversammlung sagte die Personalratsvorsitzende Monika Opitz allerdings: "Diese Zahl hat die Behördenleitung selbst feststellen lassen".
Nach den Worten eines Teilnehmers der geschlossenen Veranstaltung kommentierte Marianne Birthler die mangelnden arbeitsrechtlichen Möglichkeiten, Stasi-belastete Angestellte aus dem Dienst zu entfernen, so: "Man bekommt die Zahnpasta nicht mehr in die Tube zurück."