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Schwarzbuch

Geschichte: "Unrecht sollte benannt werden." / MAZ, 26.02.2009


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Die Stasi-Beauftragte Marianne Birthler über das Ende der DDR, den Sinn der Aufarbeitung und ihre Kritik an Stolpe

  Behördenchefin Birthler (61) in ihrem Büro am Alexanderplatz.
Behördenchefin Birthler (61) in ihrem Büro am Alexanderplatz.

Am 22. November 1990 wurde Marianne Birthler als Bildungsministerin im Kabinett von Manfred Stolpe vereidigt.
Am 22. November 1990 wurde Marianne Birthler als Bildungsministerin im Kabinett von Manfred Stolpe vereidigt.

Marianne Birthler empfängt in ihrem Büro im siebten Stock eines Plattenbaus in Berlin-Mitte. Aus dem Fenster kann man in Richtung Volksbühne schauen, der Schriftzug „Ost" auf dem Dach des Theaters ist deutlich zu erkennen. Mit der Bundesbeauftragten sprach Henry Lohmar.

MAZ: Frau Birthler, erinnern Sie sich noch an 1989?

Marianne Birthler: Aber ja, das war das aufregendste Jahr in meinen Leben.

Wie haben Sie die Stimmung in der DDR wahrgenommen, bevor die Mauer fiel?

Birthler: Das ganze Jahr über lag Veränderung in der Luft. Es war klar, dass sich die Dinge zuspitzen würden - nur nicht, in welche Richtung. Im Sommer, nach dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens, begrüßte Egon Krenz das Vorgehen des chinesischen Militärs. Das war keine außenpolitische Ankündigung, das war nach innen gerichtet. Die Botschaft lautete: Treibt's nicht zu bunt! Trotzdem hatten immer weniger Leute Angst, es wurde offener gesprochen, und viele, die unzufrieden waren, verließen das Land.

Spiegelt sich diese Veränderung in den Stasi-Akten aus jener Zeit wider?

Birthler: Die Staatssicherheit hat das sehr genau registriert. Der ganze Unmut, die zunehmende Vernetzung der Opposition - das hat das MfS als Gefahr angesehen und entsprechende Berichte an die SED verfasst. Aber die Stasi saß in der Klemme.

Inwiefern?

Birthler: Zum einen ahnten sie: Wenn wir nichts tun, wird die Opposition immer frecher. Daher wohl auch der Überfall auf die Berliner Umweltbibliothek und die Festnahme und Abschiebung der bekanntesten Bürgerrechtler im Januar 1988. Aber die SED sorgte sich um ihren Ruf - sie wollte die DDR international als humanen Staat erscheinen lassen und möglichst wenig Märtyrer in den Gefängnissen. Und so musste die Stasi aus Gründen der Staatsräson zusehen, wie sich die Lage immer weiter zuspitzte.

Wie muss man sich das konkret vorstellen?

Birthler: In den MfS-Unterlagen vom Spätherbst 1989 finden sich Zeugnisse von unglaublicher Ratlosigkeit. Es gab Versammlungen, auf denen sie verzweifelt versucht haben, ihre eigenen Leute bei der Stange zu halten. Auf der Straße passierten plötzlich Dinge, die sich kein Stasi-Offizier erklären konnte. Ihnen war ja weisgemacht worden, dass man sie an den Laternenpfählen aufknüpfen würde, wenn sie diese Feinde nicht kleinkriegen. Das war auch die Zeit, als mit der Vernichtung von Akten begonnen wurde.

Wie viele Akten konnte die Stasi vernichten?

Birthler: Das lässt sich schwer beziffern, jedenfalls warnen mich die Fachleute in unserem Archiv davor. Aber die Verluste relativieren sich ein wenig dadurch, dass viele Unterlagen seinerzeit doppelt und dreifach aufbewahrt worden sind. Berichte von IMs zum Beispiel finden sich in den IM-Akten, aber auch in den Akten der Betroffenen.

Was ist eigentlich mit Ihrer Akte?

Birthler: Auf einer Karteikarte ist vermerkt, dass die Akte im November 1989 vernichtet wurde. Aber ich habe inzwischen aus anderen Unterlagen Dokumente erhalten und weiß ungefähr, was das MfS von mir wusste und wofür es sich interessiert hat - das hatte natürlich mit meinen Aktivitäten in der Oppositionsbewegung zu tun.

Im Jahr 1990 gab es eine heftige Debatte über den Umgang mit der Hinterlassenschaft des DDR-Geheimdienstes. Helmut Kohl und Wolfgang Schäuble wollten die Akten am liebsten vernichten. Wie groß waren die Widerstände?

Birthler: Weder die Regierung de Maizière noch die Regierung Kohl wollte die Akten öffnen. Das erste Stasi-Unterlagengesetz haben wir in der Volkskammer einstimmig beschlossen. Sogar die SED-PDS war damals dafür. Schwierig wurde es, als die Öffnung der Akten nach dem Einigungsvertrag nicht vorgesehen war. Nur nach heftigen Protesten und einer zweiten Besetzung der Stasi-Zentrale konnten wir uns schließlich durchsetzen.

Warum war es richtig, die Akten offen zu halten?

Birthler: Zum einen wegen der Möglichkeit der persönlichen Akteneinsicht. Das war ja die Intention des Gesetzes: das Herrschaftswissen den Betroffenen zugänglich zu machen. Wir wollten wissen, wer die Täter waren, und wir wollten die Akten für die Forschung offenhalten.

Wie groß ist heute noch das Interesse der Ostdeutschen?

Birthler: Sehr groß. Im letzten Jahr hatten wir 87 366 Anträge auf Akteneinsicht. Zwei Drittel davon waren Erstanträge. Hinzu kommen rund 1400 - zum Teil sehr umfangreiche - Anträge von Wissenschaftlern und Journalisten.

Es geht bei den Akten aber immer auch um Schuld und Verantwortung.

Birthler: Wir wollten damals nicht, dass jemand, der seine Mitmenschen an das MfS verraten hat, wieder an herausgehobener Stelle in Politik oder Verwaltung tätig ist. Mithilfe der Akten können Verbrechen bewiesen werden, und wir können Geschichtslügen widerlegen.

Wie oft müssen Sie Menschen vor falschen Verdächtigungen schützen?

Birthler: Täglich. Die Leute verbreiten gerne Gerüchte. Manchmal wird auch versucht, Menschen gezielt zu schaden. Deshalb sind geschlossene Archive gefährlicher als offene.

Und was machen Sie, wenn solche Bitten kommen?

Birthler: Wir prüfen das und teilen dem Betroffenen so schnell wie möglich mit, dass sich in den Akten keine Hinweise auf eine Zusammenarbeit mit dem MfS finden lassen. Für einen unbescholtenen Menschen ist es doch furchtbar, wenn er sich mit solchen Vorwürfen auseinandersetzen muss.

Viele ehemalige DDR-Bürger sagen zum Thema Stasi: Lasst mich bloß mit den alten Geschichten in Ruhe, das schafft nur Unfrieden.

Birthler: Diese Haltung ist weit verbreitet, es soll ja auch niemand gezwungen werden, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Aber wer den Mut hat, es zu tun, der wird am Ende gewinnen. Unrecht sollte benannt werden, vorher kann es keine Aussöhnung geben. Das ist wie in einer Ehe: Wenn jemand den anderen betrogen hat und die Partner nicht offen miteinander umgehen, dann kann man keinen neuen Anfang machen.

Matthias Platzeck hat kürzlich gesagt, ihn störe, dass im Westen immer noch viele Menschen glauben, in der DDR habe es nur Täter und Opfer gegeben. Dabei hatten viele ein ganz normales Leben, mit Beruf, Familie, und so weiter. Verlieren wir in der Rückschau den Alltag aus dem Blick?

Birthler: Der Alltag gehört natürlich dazu, wenn man sich mit einer Diktatur auseinandersetzt. Aber wie sah der denn aus? Für mich war es eine alltägliche Erfahrung, dass ich meinen Kindern sagen musste, worüber sie in der Schule nicht sprechen dürfen. In den Medien wurden wir belogen, öffentliche Institutionen waren gleichgeschaltet. Wer mit seiner kritischen Meinung nicht hinter den Berg hielt, galt als Feind das konnte schlimme Folgen haben.

Im Jahr 1990 wurden Sie Bildungsministerin in Brandenburg. Zwei Jahre später traten Sie aus Protest gegen den Umgang Manfred Stolpes mit seinen Stasi-Verwicklungen zurück. Wie sehen Sie Stolpes Rolle heute?

Birthler: Es gab zwischenzeitlich keinen Anlass, meine Meinung zu ändern.

Das klingt nicht sehr versöhnlich.

Birthler: Mein Rücktritt von damals ist mein Kommentar zu diesem Thema. Dem habe ich nichts hinzuzufügen.

Stolpe war dann lange Jahre ein sehr beliebter Landesvater, der alle Menschen mitnehmen wollte und deshalb harte Brüche mit der Vergangenheit gescheut hat. Das Wort von der „kleinen DDR" steht dafür symbolisch, außerdem hat Brandenburg als einziges Bundesland keinen eigenen Stasi-Landesbeauftragten. Wie haben Sie das nach Ihrem Rücktritt aus der Ferne beobachtet?

Birthler: Meine Wahrnehmung ist, dass das Land Brandenburg sich im Vergleich zu anderen ostdeutschen Bundesländern immer sehr schwer damit getan hat, kritisch auf die SED-Diktatur zu schauen.

Woran könnte das liegen?

Birthler: Ein Grund dafür mag die Politik des Landesvaters gewesen sein. Aber es spielt sicher auch eine Rolle, dass im Berliner Speckgürtel bis heute sehr viele Menschen leben, die zur DDR-Nomenklatura gehört haben. Denen geht es zwar heute recht gut, viele haben aber ihre Meinungen zur DDR keineswegs geändert.

Ehemalige Stasi-Leute treten in letzter Zeit offensiver auf und versuchen so, das Geschichtsbild in ihrem Sinne zu beeinflussen. Irritiert Sie das?

Birthler: Sehen Sie, das war ja auch ein Grund, weshalb wir die Akten 1990 unbedingt behalten wollten: Mit ihnen können wir die Verbrechen der Staatssicherheit beweisen. Man muss solchen Legendenbildungen ganz einfach die Wahrheit entgegensetzen.

Haben Sie sich mal mit einem Stasi-Offizier auseinandergesetzt?

Birthler: Nein, das gehört nicht zu meinen Aufgaben. Die Erfahrung zeigt, dass diese Leute zumeist nicht bereit sind, sich zu den Verbrechen des MfS zu bekennen.

26.02.2009 MAZ