Der Schein
Ludwigsfelderfelder Verlagshaus
2004
3-933022-23-1
179
22,- Euro
Cottbus ist die unfreiwillige Endstation der langen Reise von Michael Sahlok in Peter Fischers Roman Der Schein. Es ist eine Reise in zweifacher Hinsicht: eine tatsächliche Reise und eine Erkenntnisreise. Die Biographie des Romanhelden ist zugleich eine Bewegung von Erkenntnisphase zu Erkenntnisphase.
Als Kryptogramm gelesen, verweist der Name Michael Sahlok dabei auf Kleists Novelle Michael Kohlhaas und gewinnt damit programmatische Funktion. Trachtet Michael Kohlhaas mit unerbittlicher und schon zerstörerischer Leidenschaft nach Wiederherstellung einer gerechten Welt, so strebt der Held bei Peter Fischer mit nicht minderer Leidenschaft nach der Überwindung einer Welt des Scheins.
Eine ehemalige Kaserne in Cottbus ist die Haftanstalt, in die Michael Sahlok nach misslungener Republikflucht eingeliefert wird.
Die Entzauberung der Wirklichkeit hat für ihn schon früh stattgefunden, so dass sein Lebensweg bis nach Cottbus ein schmerzhafter Prozess der fortwährenden Illusionszerstörung ist. Gemessen an der Zeit, sind die Stationen seines Lebens so ungewöhnlich nicht: Der Vater im Krieg gefallen, Jugend in einer thüringischen Kleinstadt, Schule und erste Liebe, Studium in Halle, Konflikte mit der Politik, Fluchtversuch und Haft, schließlich Freikauf durch die Bundesrepublik.
Ungewöhnlich ist Michael Sahlok hingegen als erzähltechnisches Konstrukt. Der Erzähler berichtet nicht nur chronologisch über die Abenteuer des Helden, sondern er erweitert gleichzeitig dessen Bewusstsein, indem er Reflexionen einer späteren Erkenntnisperspektive einfließen lässt, wobei eine gezielte Steuerung durch den Autor erfolgt. Auf diese Weise vermag die Schilderung des erlebenden Helden in die Vergangenheit zu springen und zugleich in die Zukunft zu greifen. Durch das Ineinanderfließen der Zeitkategorien können die Beobachtungen eines jungen Mannes mit Erkenntnissen und Verweisen verbunden werden, die jenseits des unmittelbaren Erfahrungshorizontes liegen.
Gleichsam mit seismographischen Augen wird die Erlebniswelt registriert, und jedes Detail erhält eine vom Erzähler zugeschrieben Deutungsfunktion. Die Ausstattung mit Kohlhaas-Zügen, die Michael Sahlok kompromisslos nach dem Absoluten streben lassen, machen ihn zusätzlich zu einem außergewöhnlichen Charakter. Der Autor dirigiert ihn nun so, dass er sich durch eine Welt des Scheins kämpft.
"Die alten Heiler", so heißt es ziemlich am Ende des Romans "Der Schein" lakonisch, "benannten drei Tore, durch die der Tod trat: Herz, Lunge, Hirn."
Bei Michael Sahloks Vater kam er in den letzten Tages des Krieges durch die Schläfe, er fiel in Frankfurt am Main. Für Michael, den jüngsten seiner drei Söhne, verschränken sich auf denkwürdig exemplarische Weise Lebensgang und politische Umbrüche eines durch die Verheerungen der Großen Kriege noch nicht zu sich selbst gekommenen Landes.
"Der Schein" ist das erste Buch einer Trilogie von Peter Fischer, die mit "Der Fall" und "Die Zwischenzeit" ihre Fortsetzung findet. Schon der erste Teil ist für den Liebhaber belletristischer Literatur eine Entdeckung eines in des Wortsinnes doppelter Bedeutung desideraten Bildungsromans, wie er in dieser Form im Nachkriegsdeutschland noch nicht anzutreffen sein dürfte.
Man könnte ihn einen Antikriegsroman nennen, der die Hauptperson, ausgehend von ihrer traumatisch erlebten Kindheit auf ihrem Lebensweg durch ein geteiltes Vaterland begleitet. Aber er ist mehr. Er ist zugleich ein über einen Gesellschaftsroman hinausgehender politischer Zeitroman, in dem der Autor seine Hauptperson aus der Perspektive zweier gegensätzlicher Gesellschaftssysteme die Folgen eines sinnlosen Krieges erleben läßt.
Dabei kreuzen Menschen seinen Lebensweg, deren Schicksale von den jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnissen geprägt sind. Trotz seines schöngeistigen Anspruchs, seiner kulturhistorischen und philosophischen Assoziationen (innere Monologe) um den eigentlichen Handlungskern - die äußere Handlung und die innere mit ihrer geistig- moralischen Entwicklung der Hauptperson sind sehr einfühlsam verwoben - hebt der Autor nicht ab, sondern findet immer wieder auf den Boden realer gesellschaftlicher Fakten einer aus den Fugen geratenen Zeit zurück, die nicht ohne schicksalhafte Auswirkungen auf die handelnden Personen bleiben. Und das ist es, was den Roman auch zu einem zeitgeschichtlichen Dokument werden läßt.
Seine Authentizität erhält der Roman durch die Biographie des Autors, der trotz seiner Bekanntschaft mit dem Stasi- Knast das gesellschaftliche Umfeld der Menschen mit ihren Verhaltensweisen im geteilten Deutschland sine ira et studio beschreibt.
Der Roman dürfte nicht nur jene Menschen ansprechen, die das Schicksal des gebrochenen Helden teilen, deren Väter, Brüder, Freunde nicht mehr aus dem unsäglichen Krieg heimkehrten und sie schon im Kindesalter in einer zerstörten Welt unberaten zurückließen, sondern empfiehlt sich auch gerade den Opfern der Hinterlassenschaften der Jahrhundertkatastrophe zur Lektüre, die erst mit der ersehnten Wiedervereinigung ideellen und materiellen Schaden an Glauben und Hoffnung in einem Rechtsstaat genommen haben: Betroffene in Ost und West, die glaubten, in einem Rechtsstaat zu leben bzw. in einen Rechtsstaat angekommen zu sein.
Ein äußerst empfehlenswertes Buch, das beim Leser tiefe Nachdenklichkeit und lange nachwirkende Betroffenheit hinterlassen dürfte. - el-