Gerichtspräsident: Minister missachtet Steuer-Urteile
Finanzen
Gerichtspräsident: Minister missachtet Steuer-Urteile
Hat die Regierung für Bürger günstige Steuer-Entscheidungen des Bundesfinanzhofs nicht umgesetzt? Deutschlands höchster Finanzrichter spricht von systematischer Missachtung der Urteile - das Bundesfinanzministerium nennt die Praxis hingegen ein "ganz normales Verfahren".
Von Jost Müller-Neuhof
6.12.2008 0:00 Uhr
Berlin : Im Streit um niedrigere Steuern hat Deutschlands höchster Finanzrichter der Regierung vorgeworfen, für Bürger günstige Urteile des Bundesfinanzhofs (BFH) systematisch zu missachten. Die Finanzverwaltung mit Minister Peer Steinbrück (SPD) an der Spitze habe eine Reihe von Mechanismen entwickelt, um BFH-Entscheidungen zu unterlaufen, sagte dessen Präsident Wolfgang Spindler am Donnerstagabend in Karlsruhe. Durch rund ein halbes Dutzend sogenannter Nichtanwendungserlasse pro Jahr verhindere die Steuerverwaltung, dass Bürger von Urteilen profitieren könnten, kritisierte der Richter. „Ich sehe darin ein Riesenproblem.“
Die Erlasse des Ministeriums sind unter Steuer- und Verfassungsjuristen seit langem umstritten. Mit ihnen werden die untergeordneten Behörden angewiesen, bestimmten Urteilen des BFH nicht zu folgen. Zuletzt betraf dies einen Richterspruch zum Besteuerungszuschlag für Dienstwagenfahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte. Stattdessen gilt das Urteil ausschließlich zugunsten desjenigen, der es erkämpft hat. Auch Urteile anderer Bundesgerichte würden nicht nur zwischen den Parteien, sondern in allen vergleichbaren Fällen angewendet, sagte Spindler. Der BFH solle verbindliche Urteile fällen und das Recht entsprechend fortbilden. Diese Aufgabe per Erlass einzuschränken, sei verfassungsrechtlich nur in Ausnahmen zulässig.
Das Finanzministerium verteidigte sein Vorgehen. Dies sei ein „ganz normales Verfahren“ und eine „lange geübte Praxis“, die rechtlich auf sicheren Füßen stehe, sagte ein Sprecher des Ministeriums am Freitag in Berlin. „Wir haben keine Veranlassung, davon abzuweichen“. Nach Angaben der Bundesregierung ergeht nach jedem 60. BFH-Urteil ein förmlicher Anwendungsstopp. In über 80 Prozent der Fälle wären die Bürger durch die Urteile begünstigt. Die Regierung beruft sich jedoch auf ihre in der Verfassung festgelegte Gesetzesbindung. Sie müsse eigenständig prüfen, was rechtmäßig sei und damit Verwaltungsmaßstab werden soll. Ferner könne es geboten sein, verschärfende Urteile erst nach einer Übergangszeit anzuwenden. Erlasse könnten im Übrigen auch zugunsten der Steuerzahler wirken.
Die Bundesregierung hält dem BFH vor, er wechsele seine Ansichten zu häufig, um ein einheitliches Steuerrecht zu gewährleisten. Zwischen den Jahren 2000 und 2005 hätten die Richter in über hundert Entscheidungen ihre Rechtsprechung geändert. Aus rein fiskalischen Gründen, also nur um mehr Steuern einzunehmen, sei bislang noch kein einziger Erlass ergangen. Allgemeinverbindlich, heißt es weiter, seien lediglich Urteile des Bundesverfassungsgerichts.
Der Vorsitzende der CSU-Mittelstandsunion, Hans Michelbach, forderte Minister Steinbrück auf, die „unglaubliche Praxis“ sofort zu beenden. „Wenn das oberste Finanzgericht eine Besteuerungsregelung für rechtswidrig erklärt, muss das allen Steuerzahlern in vergleichbaren Fällen zugutekommen und nicht nur den Klägern. Alles andere ist reine Abzocke und mit dem Rechtsstaatsge danken unvereinbar.“ Gerichtspräsident Spindler kritisierte, die Bürger würden in Steuersachen mit einem Recht kon frontiert, das sie teilweise überfordere. Es werde ständig geändert und müsse „für alles herhalten – ob Denkmalschutz, Arbeitsmarkt, Wohnungsbau- oder Verkehrspolitik“. mit dpa/ddp
(Erschienen im gedruckten Tagesspiegel vom 06.12.2008)